Heroes in Krefeld

Markus Klaaßen: Die Suche nach dem Ich

Markus Klaaßen, 49, arbeitet erfolgreich als Manager, bis ihn ein Burnout aus der Bahn warf. In einer Therapie kam er den Hintergründen seiner Erkrankung auf die Spur: Als Kind war er von seinen Eltern jahrelang missbraucht, misshandelt und zwangsprostituiert worden.

Wer sind wir? Und wie werden wir der, der wir sind? Kommen wir bereits genetisch vorgeprägt auf die Welt oder sind wir ein weißes Blatt, das erst durch Erziehung und Erfahrung beschrieben wird? Die Frage, über die Philosophen, Hirnforscher, Psychologen und Soziologen seit Jahrhunderten streiten, ist für Markus Klaaßen so akut wie die nach dem nächsten Abendessen. Als Kind wurde er über Jahre von seinen Eltern zwangsprostituiert und von einem weiten Täterkreis misshandelt, gefoltert, missbraucht und vergewaltigt. Das erlittene Leid war so groß, dass sein Gehirn die Erinnerung daran über Jahrzehnte verschloss. Klaaßen führte in dieser Zeit ein ganz normales Leben – bis das Verborgene wieder an die Oberfläche drang und alles auf den Kopf stellte.

Es ist eine sternenklare Nacht und Markus Klaaßen kann nicht schlafen. Die Erkenntnisse, die er während des Tages gewonnen hat, halten ihn wach. Er sitzt auf der Dachterrasse einer südhessischen Privatklinik, aufgewühlt von dem, was er in den vergangenen Stunden über sich und seine Vergangenheit in Erfahrung gebracht hat. Die Bilder und Flashbacks, die ihn heimsuchten, haben plötzlich Bedeutung erhalten. Eine schockierende Bedeutung: Markus ist als Kind und Jugendlicher sexuell missbraucht worden. Doch da ist noch mehr. Schlagartig bricht es über ihn herein, Schwindel überfällt ihn, sein Herz rast. „Plötzlich war es wie ein Vulkanausbruch“, schildert er. „Alles kam zurück.“ Als eine Nachtschwester zu ihm heraustritt, sagt er nur: „Ich würde gern mit einem Arzt reden. Irgendetwas stimmt hier nicht.“

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Klaaßen, Jahrgang 1975, ein Leben wie im Bilderbuch geführt: eine glückliche Ehe mit der Jugendliebe, ein gesundes Kind, eine verantwortungsvolle, gutbezahlte Management-Position in einem namhaften Unternehmen. Dabei war Klaaßen dieser Erfolg keineswegs in den Schoß gefallen, er hatte ihn sich hart erarbeitet. Aus schwierigsten sozialen Verhältnissen kommend, nur mit einem Hauptschulabschluss ausgestattet, seit dem 18. Lebensjahr auf eigenen Füßen stehend, hätte ihm niemand eine steile berufliche Karriere vorausgesagt. „Meine Frau sagt immer, ich sei der lebensbejahendste, fröhlichste Mensch gewesen, den sie je getroffen hatte“, sagt Klaaßen. Doch all das änderte sich 2016 schlagartig: „Ich saß in einem Meeting, meine Kollegen erzählten von ihren Problemchen und ich merkte nur: Ich kann das nicht mehr. Plötzlich schwoll meine Lippe an, innerhalb von Sekunden, und ich bekam Ausschlag am ganzen Körper“, erinnert er sich. Sein Arzt schreibt ihn für zehn Wochen krank, Burn-out. „Heute weiß ich, was damals wirklich passiert ist, aber damals habe ich das nicht verstanden. Ich dachte, es ist der berufliche Stress, also wechselte ich nach der Auszeit in eine andere Position und fing wieder an zu arbeiten. Und ich funktionierte besser denn je, hatte mehr Verantwortung, mehr Mitarbeiter, schrieb die besten Zahlen, die ich je hatte.“ Es bleibt eine kurze Episode in seinem Leben, denn nur ein Jahr später folgt der Totalzusammenbruch. „Mir ging es immer schlechter“, blickt er auf diese Zeit zurück. „Ich konnte nicht mehr richtig schlafen und war unglaublich gereizt. Meine Frau und mein Kind trauten sich kaum noch in meine Nähe. Ich war nicht fähig, länger arbeiten zu gehen, aber auch zu Hause hielt ich es nicht mehr aus.“ Klaaßen lässt sich in eine Privatklinik einweisen. Er weiß es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber das Leben, das er bis zu diesem Zeitpunkt geführt hatte, endet an diesem Tag für immer.

Die Kunsttherapie half Klaaßen, die verschütteten Erinnerungen ans Tageslicht zu holen.

Durch viele Jahre der Psychotherapie und die eigene Beschäftigung mit Gewalt und Missbrauch, der Beziehung von Tätern und Opfern, Psychologie und Neurologie hat Klaaßen sich ein tiefes, fundiertes Wissen erarbeitet. In seiner geschmackvoll eingerichteten und blitzsauberen Wohnung ist er umgeben von Fachbüchern zum Thema. Immer wieder erläutert er im Gespräch Funktionen des Gehirns oder referiert über das Wesen von Erinnerung und Verdrängung. Heute versteht er sehr genau, warum sein Gehirn irgendwann beschloss, seine Erinnerung zu vergraben, warum ihn noch heute manchmal aus heiterem Himmel Angstzustände ereilen oder sein Körper merkwürdige Dinge tut. So wie damals, als seine Lippe comichaft anschwoll: „Mein Chef sah aus wie einer meiner Vergewaltiger. Das hat mich getriggert“, lächelt er. Der ehemalige Manager ist mittlerweile voll erwerbsunfähig, Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung. Ein psychologisches Gutachten bescheinigt ihm die geistige Zurechnungsfähigkeit und bestätigt, dass ihm das, woran er sich erinnert, tatsächlich widerfahren ist. Seine Ehe ist schon vor Jahren zerbrochen: „Als meine Frau mich in der Klinik besuchte, fühlte es sich an, als verliebte ich mich neu in sie. Doch für sie war es der Moment, in dem sie wusste, dass sie mich verloren hatte. Ich war nicht mehr der Mensch, den sie kennengelernt hatte“, blickt Klaaßen auf den Beginn seines zweiten Lebens zurück. Oder ist es sogar das dritte?

Das erste beginnt 1975, als Markus in Gelsenkirchen in „asozialste Verhältnisse“ geboren wird, wie er sie heute selbst beschreibt. Mutter und Stiefvater sind beide drogenabhängig, letzterer zudem schwerer Alkoholiker. Gewalt und Misshandlung stehen an der Tagesordnung, aber die Abgründe sind unendlich viel tiefer. Von den eigenen Eltern geschlagen zu werden, von den Menschen, die einen bedingungslos lieben, schützen und auf das Leben vorbereiten sollten, hinterlässt bei jedem Kind tiefe Narben. Wie muss es Markus ergangen sein, als seine Eltern ihn am Bahnhof verkauften, um ihre Sucht zu finanzieren? Als er von Freunden und Bekannten, von Fremden, vom Arzt oder vom evangelischen Pfarrer missbraucht und misshandelt wurde? Markus gerät in ein wahres Netzwerk der Gewalt, wird über Jahre systematisch und mit eiskaltem Kalkül zwangsprostituiert, betäubt, missbraucht, misshandelt, gefoltert und vergewaltigt. Ein Arzt stellt den Eltern die Betäubungsmittel zur Verfügung, um den Jungen gefügig zu machen und „flickt“ ihn immer wieder zusammen, um den Anschein zu wahren. Ein evangelischer Pfarrer missbraucht ihn im Konfirmandenunterricht: eine Tat, die er jahrelang vorausgeplant hat. Niemand im Umfeld bemerkt etwas – oder will etwas bemerken. Auch das Jugendamt nicht, das in Markus‘ Elternhaus Dauergast ist. Die Schutzmechanismen vergraben derweil alle Erinnerungen an die dauernden Qualen. Erst mit 16 gelingt es dem Jungen, sich gegen seine Familie zu erheben und sich aus seinem Gefängnis zu befreien. Als der Stiefvater seine Mutter angreift, bricht die ganze aufgestaute Wut aus ihm heraus. Er schlägt den Mann zusammen und geht daraufhin freiwillig ins Kinderheim. „Ich wusste, dass mein Stiefvater mich sonst umgebracht hätte“, sagt er. „Das einzige, was du je für mich getan hast, war, mich nicht verhungern zu lassen“, sagt Klaaßen Jahre später am Sterbebett der Mutter. Was sie ihm wirklich angetan hatte, ist ihm da noch gar nicht voll bewusst. „Würde meine Mutter noch leben, hätte sie keinen Tag Ruhe mehr vor mir. Es ist gut, dass sie tot ist“, gesteht er so nüchtern, wie die immer noch schwelende Wut es zulässt.

Seine Erinnerungen hat Klaaßen in Dutzenden von Tagebüchern festgehalten.

Klaaßens heutiges Leben ist ein andauerndes Ringen. Er ist in Therapie, bemüht zu verstehen, was mit ihm passiert ist, zu lernen, mit den Panikattacken und Angstzuständen umzugehen. Um das Tosen in seinem Inneren zu besänftigen, engagiert er sich ehrenamtlich im stups Kinderhospiz, er treibt viel Sport, tauscht sich mit anderen Missbrauchsopfern aus, versucht, ihnen Hilfestellung zu geben. Er hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben und dreht aktuell mit dem ZDF an einer Dokumentation über Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche für 37 Grad, die im kommenden Januar ausgestrahlt werden wird. „Wir stehen mit der Aufarbeitung erst am Anfang“, erklärt er. „Mich schaudert, wenn ich daran denke, wie viele Menschen Missbrauch erfahren haben und es vielleicht selbst gar nicht mehr wissen.“ Im Augenblick verfüge unser Staat noch nicht über die Strukturen, dieses Leid aufzufangen, wie Klaaßen am eigenen Leib schmerzlich erfahren musste. Oder fehlt da sogar der Wille? Mehrere tausend Euro steckte Klaaßen in ein rund 26 Seiten starkes Rechtsgutachten, das am Ende zu dem Schluss kommt, dass alle gegen ihn verübten Straftaten mittlerweile verjährt sind – oder zum Zeitpunkt der Tat noch gar keine Straftaten waren. Sein Ringen mit den Instanzen führte am Ende zu der Erkenntnis, dass er selbst etwas tun muss. „Für Kinder gibt es heute zum Glück ein breites Hilfsangebot, aber für Erwachsene sieht die Situation anders aus. Es gibt zwar auf dem Papier viele Anlaufstellen, aber bei den wenigsten hat man den Eindruck, dass sie wirklich etwas tun können“, klagt er. Oft fühle man sich als Opfer wie ein unliebsamer Bittsteller, der sich die nächste Demütigung abholen müsse. „Ich habe den Glauben daran, dass die Justiz für Gerechtigkeit sorgen kann, schon vor langer Zeit aufgegeben“, gesteht er resigniert. „Aber ich wünsche mir, dass die Aufarbeitung für die Betroffenen leichter wird, dass sie Zugang zu Hilfe erhalten.“ Zusammen mit einem Therapeuten hat Klaaßen aus diesem Grund die Idee „Hilfe durch Selbsthilfe“ geboren: Im Moment ist es nur eine Website, die seine Idee erklärt und Informationen zum Thema bereithält, aber wenn es nach Klaaßen geht, entsteht daraus ein Netzwerk aus Rechtsanwälten, Therapeuten und Sozialarbeitern, die erwachsenen Missbrauchsopfern verlässliche Hilfe geben.

Das umfangreiche Gutachten hat Klaaßen nichts gebracht, nur Geld gekostet.

Markus Klaaßen verfügt über enorme Energie, man spürt, wie sehr ihn das Thema aufwühlt, wie sehr er selbst noch „drin“ ist. Er ist sympathisch, intelligent, ein Typ, dem man gern zuhört. Aber man sieht in seinem Gesicht auch, welche Spuren der andauernde Kampf gegen die quälenden Erinnerungen hinterlassen hat. Ängste vor dem Älterwerden, wenn er vielleicht nicht mehr in der Lage sein wird, zwischen Erinnerung und Gegenwart zu unterscheiden, zehren ihn auf. Und natürlich ist da die schiere Verzweiflung angesichts der Frage, warum Menschen einander solches Leid antun. „Was sind wir für Monster?“, ereifert er sich. Er öffnet eine Excel-Tabelle, in der er Zeile für Zeile Täter und Täterinnen aus seiner Erinnerung protokolliert hat und ihnen Taten und Tatorte zuweist: Man kann nur erahnen, wie qualvoll der Prozess der Erstellung gewesen sein muss. Die Tabelle hat 46 Zeilen. Der 49-Jährige wirkt jetzt müde, erschöpft, als läge ein Schatten über ihm. Ein Schatten, von dem er weiß, dass er ihn nicht wird verjagen können. Es ist der Schatten einer Vergangenheit, die seine Gegenwart bestimmt und weite Teile seines Lebens gelöscht hat. Wer war dieser Mann, der eine steile Karriere hinlegte und eine Familie gründete, ohne jede Erinnerung an das, was ihm widerfahren war? Seinen ganzen Schmerz fasst Markus Klaaßen in einen einzigen Satz. Er ist kurz, aber tonnenschwer: „Ich weiß nicht, wer ich bin.“


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Markus Klaaßen: Über Leben
BoD – Books on Demand
354 Seiten
19,99 Euro
hilfe-durch-selbsthilfe.de

Fotos: Niklas Breuker, Grafik: Michael Strogies
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